| Titel: | Die Entwicklung des Taylorismus und die amerikanischen Gewerkschaften. | 
| Autor: | Kalpers | 
| Fundstelle: | Band 342, Jahrgang 1927, S. 67 | 
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                        Die Entwicklung des Taylorismus und die
                           								amerikanischen Gewerkschaften.
                        Die Entwicklung des Taylorismus.
                        
                     
                        
                           Der Aufschwung der amerikanischen Industrie hat nicht allein zu einem Wohlstand
                              									der Unternehmer, sondern auch der Arbeiterschaft selbst geführt. Der amerikanische
                              									Arbeiter, der seit einiger Zeit begriffen hat, daß die auf den Gedanken Taylors
                              									fußende „wissenschaftliche Betriebsführung“ seinen eigenen Interessen
                              									zustatten kommt, ist der glücklichste und zufriedenste Arbeiter der Welt. Er bezieht
                              									einen weit höheren Lohn als der europäische Arbeiter, geht seiner Tätigkeit mit
                              									hohem Eifer nach, da er sich dessen bewußt ist, daß seine Bemühungen von seinem
                              									Fabrikherrn anerkannt werden, den er nicht allein als einen Lohnzahler, sondern auch
                              									gewissermaßen als seinen Assoziierten betrachtet. Sie sind beide von gegenseitigem
                              									Vertrauen zueinander erfüllt und tragen beide zur Steigerung und Verbesserung der
                              									Erzeugung nach Kräften bei. Diese Haltung der amerikanischen Arbeiter zum
                              										„scientific management“ ist nicht immer die gleiche gewesen, vielmehr
                              									haben sie das Taylor-System lange und heftig bekämpft, ehe sie sich zu seiner
                              									heutigen Anerkennung durchgerungen haben.
                           Da auch bekanntlich unsere Industrie immer wieder auf Schwierigkeiten stößt, wenn es
                              									sich darum handelt, neue Arbeitsverfahren und Arbeitsbewertungsarten einzuführen,
                              									ist es auch für uns nicht ohne Interesse, den Gedankengängen nachzugehen, die die
                              									amerikanischen Arbeiter durchlaufen haben, und die Gründe kennen zu lernen, die sie
                              									schließlich zu ihrem Gesinnungswechsel veranlaßt haben.
                           Als im Jahre 1910 eine amerikanische Eisenbahngesellschaft eine Tariferhöhung
                              									beanspruchte, wurde ihr von richterlicher Seite entgegengehalten, daß sie sich durch
                              									Anwendung des Taylor-Systems höhere Einnahmen auch ohne Tariferhöhung verschaffen
                              									könne. Dieser Prozeß lenkte die Aufmerksamkeit der Oeffentlichkeit nunmehr auf
                              									Taylor, der bis dahin im stillen gearbeitet und seine Pläne nur einem kleinen Kreis
                              									von Technikern übermittelt hatte. Daraufhin traten eine Reihe von Leuten an die
                              									verschiedenen Industrien heran, die als „efficiency engineer“ – als
                              										„Wirkungsgrad-Ingenieur“ – die Industrie von all ihren Leiden heilen
                              									wollten. Mit dem Zeitmesser in der Hand, wollten sie sofortige Beweise für ihre
                              									Erfolge bieten und berücksichtigsten einseitig nur die Leistung des Arbeiters,
                              									anstatt daß sie versuchten, das Problem in seiner Gesamtheit zu erfassen und zu
                              									lösen. Diese oberflächliche und irrige Auslegung und Anwendung des Taylor-Systems
                              									rief begreiflicherweise Mißtrauen und Abneigung bei den Arbeitern gegen dieses
                              									System hervor. Die American Federation of Labor übernahm die Verteidigung ihrer
                              									Mitglieder und machte dem „scientific management“ den Vorwurf, diese
                              									Arbeitsweise beschleunige die Arbeit auf Kosten der Gesundheit der Belegschaft und
                              									habe ihre frühzeitige Entlassung nach Ausbeutung ihrer Kräfte zur Folge; weiter
                              									riefe dies System eine Ueberproduktion mit anschließender Arbeitslosigkeit hervor.
                              									Auf der anderen Seite aber mußte festgestellt werden, daß die „wissenschaftliche
                                 										Betriebsführung“ als gelungen zu betrachten war, wo man sie gewissenhaft und
                              									mit Sachkenntnis ausgeübt hatte. Die Kriegsverhältnisse, die Notwendigkeit der
                              									Steigerung der industriellen Erzeugung, die Zusammenballung aller Kräfte zu gleichen
                              									Zwecken und die bevorzugte Stellung der amerikanischen Industrie, die den Arbeitern
                              									höhere Löhne zu bieten in der Lage war, waren Umstände, die eine Entspannung der
                              									Arbeiterorganisationen in bezug auf das Taylor-System begünstigten. Unmittelbar nach
                              									dem Waffenstillstand gelang es den Anhängern Taylors, die sich dessen wohl bewußt
                              									waren, daß all ihre Bemühungen zu sicherem Mißerfolg ohne Mitarbeit der Arbeiter
                              									verurteilt wären, mit den Arbeiterorganisationen in Fühlung zu treten. Man zeigte
                              									dabei auf breiterer Grundlage Verständnis für die von Arbeiterseite vorgebrachten
                              									Einwände, untersuchte mit gleicher Aufmerksamkeit den Faktor Mensch und den Faktor
                              									Technik und schließlich erwogen beide Parteien vom Standpunkt des allgemeinen
                              									Interesses aus die Probleme der Leistung nicht allein bei der Einzelanwendung des
                              									Taylor-Systems in der Werkstätte, sondern auch in bezug auf die Gesamterzeugung und
                              									ihre Auswirkung auf die gesamte Bilanz. Die Folge dieser gemeinsamen Besprechungen
                              									und Untersuchungen war, daß die Gewerkschaften sich allmählich ein anderes Bild vom
                              									Taylor-System zu machen begannen und daß sie einsahen, daß dieses System nicht
                              									allein einseitig 
                              									die Interessen des Unternehmers förderte; es dauerte jetzt auch nicht mehr
                              									lang, bis die Gewerkschaften sich zu folgendem Satz bekannten: die organisierten
                              									Arbeiter werden begreifen, daß sie den sichersten und beständigsten Weg, der zum
                              									Wohlstand führt, nur dann finden werden, wenn sie sich darüber Rechenschaft
                              									abgegeben haben, daß es besser ist, Mehrarbeit bei höherer Verdienstmöglichkeit zu
                              									leisten, als für eine geringere Arbeit bei gleicher Lohnhöhe oder für eine gleiche
                              									Arbeit bei höherem Lohn zu kämpfen. Die Arbeiterverbände, die bis dahin dafür
                              									eingetreten waren, den Rechten der Arbeiter Achtung und diesen selbst genügende
                              									Existenzmöglichkeiten zu verschaffen, erweiterten von nun an ihr Programm und
                              									erklärten sich offen für eine effektive Gemeinschaftsarbeit im Interesse der
                              									Produktionshebung, indem sie die amerikanische Arbeiterbewegung auf eine positive
                              									Mitarbeit hinlenkten mit dem Zweck, die Arbeitsverfahren zu modernisieren, die
                              									Leistung zu steigern und die Streikgefahren oder sonstige Streitigkeiten, die die
                              									Erzeugung so stark in Mitleidenschaft ziehen, zu verhindern und einzuschränken. Die
                              									Ansicht der amerikanischen Gewerkschaften geht dahin, daß Differenzen zwischen dem
                              									Unternehmer und der Belegschaft durch freundschaftliche Besprechungen und
                              									Aussprachen aus der Welt zu schaffen sind, wobei die Rechte beider Teile gegenseitig
                              									beachtet werden müssen. Der Arbeiterführer William Green, der Nachfolger Samuel
                              									Gompers, gibt folgende Richtlinien für die Arbeiterbewegung in den Vereinigten
                              									Staaten an: „Das Recht des Unternehmers, seine Industrie zu leiten und eine
                                 										angemessene Entschädigung für seine Kapitalien zu erhalten, muß anerkannt
                                 										werden, ebenso aber auch das Recht der Arbeiter, sich zu organisieren und ihre
                                 										Interessen vor dem Unternehmer durch von ihnen gewählte Vertreter zu
                                 										verteidigen. Andererseits hat auch die Arbeiterschaft das größte Interesse
                                 										daran, daß die Industrie gut geleitet wird: dies ist der Fall bei Einführung
                                 										wirtschaftlicher Verfahren, bei Entwicklung der Produktionssteigerung und bei
                                 										Verminderung der Selbstkosten ohne Erschwerung der Arbeitsbedingungen und ohne
                                 
                                 										Verkürzung der Löhne. Die Arbeiter sind dann überzeugt, daß der Preis für alle
                                 										Erzeugnisse nur dann sinken kann, wenn die Leistung des Arbeiters und die
                                 										Wirkung der seitens des Unternehmers getroffenen Maßnahmen gesteigert,
                                 										Verschwendungen vermindert und wirtschaftliche Arbeitsverfahren angewendet
                                 										werden.“
                              								
                           Ein Versuch industrieller Gemeinschaftsarbeit in dem oben aufgeführten Sinne wurde
                              									bei der Baltimore and Ohio Railroad Co. unternommen. Nach den Streiks von 1922
                              									stellten die Leitung und die Arbeiterschaft einen Arbeitsplan für die Betriebe zu
                              									Glenwood auf, deren Selbstkosten höher waren als die aller anderen Betriebe dieser
                              									Gesellschaft. Nach einer dreimonatigen Durchberatung kam eine Einigung zwischen
                              									beiden Teilen auf folgender Grundlage zustande: Anerkennung der Gewerkschaften als
                              									Arbeitervertreter, Einverständnis zwischen Direktion und Belegschaft in bezug auf
                              									die Zusammenarbeit zwecks Verbesserung des Betriebs; Versprechung, die Gewinne, die
                              									aus den neuen Erfahrung herrührten, zu teilen; wirtschaftliche Organisation der
                              									Verwaltung. Im März 1923 traten die Vertreter beider Parteien wieder zusammen
                              									und von da an zweimal im Monat zur Prüfung der seitens der Belegschaft gemachten
                              									Vorschläge, soweit sie sich auf die wissenschaftliche Analyse der Aufgabe, die
                              									Verbesserung der Werkzeuge, des Lagerwesens, der wirtschaftlichen Ausnutzung der
                              									Einrichtungen, die Verteilung der Belegschaft in die verschiedenen Betriebe und die
                              									Verteilung der Arbeiten selbst bezogen. Die Arbeitsbedingungen und die Lohnfragen
                              									verbleiben ganz unter der Abhängigkeit der Werksleitung, die sich auch die
                              									Entscheidung über die vorgebrachten Vorschläge vorbehielt. Ein allgemeiner,
                              									ebenfalls paritätischer Ausschuß kommt alle drei Monate zusammen, der Fragen mehr
                              									allgemeinen Interesses zu prüfen hat. Auf Grund der in den Ausschüssen behandelten
                              									und im Betrieb daraufhin angewendeten Fragen war es der Gesellschaft möglich, im
                              									Jahre 1924 in ihren Werkstätten Arbeiten ausführen zu lassen, die sie sonst
                              									außerhalb vergibt und die an Löhnen die Summe von rund 350000 Dollars ausmachte.
                              									Diese Ziffer stieg im Jahre 1925 auf 2700000 Dollars.
                           Nach diesen Erfolgen traten auch andere Eisenbahngesellschaften, u.a. auch die große
                              									Canadian National Railway an das Problem des Taylor-Systems heran, ferner andere
                              									Industriezweige. Auch hier folgten die Gewerkschaften dem bei der
                              									Baltimore-Gesellschaft eingeschlagenen Weg, indem sie einsahen, daß die Wirkung der
                              									planmäßigen Betriebsführung der Arbeiterschaft nur zum Wohl gereichte. Im Juni 1925
                              									konnte der Leiter der Taylor Society, H. Person, feststellen, daß es einer Zeit von
                              									15 Jahren an Beobachtungen, Erfahrungen und Ueberlegungen bedurft hätte, um die
                              									wirkliche Bedeutung des „scientific management“ zu begreifen, dessen
                              									wichtigstes Element der Begriff der Zusammenarbeit ist und das ohne diese
                              									Zusammenarbeit nicht bestehen kann.
                           Die folgende Entwicklung im amerikanischen Gewerkschaftswesen ermöglichte es nunmehr
                              									der American Federation ob Labor, der Einladung der Taylor Society zu einer
                              									gemeinsamen Tagung Folge zu geben. Bei dieser Gelegenheit äußerte sich am 3.
                              									Dezember 1925 der Arbeiterführer Green u.a. folgendermaßen: „Die Gewerkschaft ist
                                 										sich darüber klar, daß vom Erfolg der Direktion das Wohl des Betriebes abhängt;
                                 										infolgedessen haben die Arbeiter eine Reihe ihrer früheren Auffassungen
                                 										verlassen, um neuzeitlichere Anschauungen anzunehmen. Das Verhältnis zwischen
                                 										Leitung und Belegschaft hat sich geändert und ändert sich jeden Tag. Die
                                 										Unternehmungsleitung ihrerseits sieht ein, daß für die Erzielung von
                                 										Ersparnissen im Produktionsprozeß die Zusammenarbeit mit der Arbeiterschaft und
                                 										die Aufstellung gerechter Arbeitsbedingungen von höherem Wert ist als die
                                 										einseitige Ausübung der Macht. Die Gewerkschaften andererseits sind sich dessen
                                 										bewußt, daß eine Steigerung der Arbeitsleistung und die Vermeidung von
                                 										Verschwendungen zu höheren Löhnen und besseren Arbeitsverhältnissen führen. Auf
                                 										beiden Seiten sieht man ein, daß Lohnsteigerung und Leistungssteigerung
                                 										solidarisch sind.“
                              								
                           Aus alledem kann man schließen, daß dieser fortschreitende Umschwung der Gesinnung in
                              									den 
                              									Kreisen der amerikanischen Arbeiterschaft zugunsten des Taylor-Systems seinen
                              									Niederschlag auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiete in Amerika finden wird. Der
                              									zufriedenste, von dem Nutzen seiner Anstrengungen überzeugte Arbeiter wird seine
                              									Industrie stark unterstützen, die ihrerseits ihre Selbstkosten wird verbessern und
                              									ihre Absatzgebiete wird erweitern können. Aus diesen Tatsachen ist zu
                              									schließen, daß der amerikanische Unternehmer es jedenfalls verstanden hat, aus dem
                              									anfänglich verpönten Taylor-System ein anerkanntes Arbeitssystem zum Wohl der
                              									nationalen Industrie zu schaffen.
                           (L'Usine, 21. August 1926.)
                           
                              Kalpers