| Titel: | Hendrik Anton Lorentz †. | 
| Autor: | Paul Kirchberger | 
| Fundstelle: | Band 343, Jahrgang 1928, S. 47 | 
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                        Hendrik Anton Lorentz †.
                        (Nachdruck verboten.)
                        KIRCHBERGER, Hendrik Anton Lorentz †.
                        
                     
                        
                           Wieder ist einer von den ganz Großen im Reiche des Geistes dahingeschieden: Der
                              									niederländische Physiker Hendrik Anton Lorentz, der vor kurzer Zeit auf eine
                              									halbhundertjährige akademische Lehrtätigkeit zurückblicken konnte und der eine Reihe
                              									von Jahrzehnten eine führende Stellung in der Naturwissenschaft innehatte, ist im
                              									Alter von 75 Jahren verstorben.
                           Von den vielfachen Verdiensten, die sich Lorentz erworben hat, ist das bekannteste
                              									das, daß er den unmittelbaren Anstoß zur Entwicklung der Relativitätstheorie gegeben
                              									hat. Wenn auch der früh verstorbene Mathematiker Minkowski und später Albert
                              									Einstein dieser Lehre eine mathematisch und philosophisch vollkommenere Form gegeben
                              									haben und Einstein sie zur umfassenden Relativitätstheorie fortgebildet hat, so ist
                              									es doch nicht gerechtfertigt, darüber den Namen von Lorentz zu vergessen: Er war es,
                              									der zuerst die Bedeutung des Michelsonversuchs erkannte und ihm durch eine
                              									physikalische Theorie gerecht wurde. Der Michelsonversuch hatte gezeigt, daß die
                              									Lichtgeschwindigkeit immer gleich groß ist, wie sich der Beobachter auch immer
                              									bewegt, während doch z.B. ein Wagen, der uns entgegenkommt, 
                              									schneller an uns vorbeifährt als einer, der uns überholt. Daß dies beim Licht
                              									nicht so ist, ist höchst merkwürdig und war vor Michelson nur deshalb übersehen
                              									worden, weil sich das Licht so ungemein schnell bewegt, daß ein Vergleich mit
                              									gewöhnlichen Bewegungen große Schwierigkeiten hat. Aber die Verdienste von Lorentz
                              									sind nicht geringer als die Michelsons! Er hat nicht nur dessen fast vergessenen
                              									Versuch ins helle Tageslicht gestellt, sondern suchte ihn auch durch eine ungemein
                              									kühne Vorstellungsweise zu erklären. Er nahm einen allgegenwärtigen Aether an, oder
                              									vielmehr: er baute die schon ältere Annahme eines solchen weiter aus und behauptete
                              									ferner, daß bei jeder Bewegung gegen diesen ewig ruhenden Aether eine
                              									Zusammenziehung der bewegten Körper stattfinde. Mit diesen allerdings etwas
                              									fremdartig anmutenden Annahmen gelang es ihm, den durch den Michelsonversuch
                              									geschaffenen Tatbestand restlos aufzuklären. Nun sind zwar jene Annahmen
                              									unbefriedigend, hauptsächlich deshalb, weil man sich vom Standpunkt der heutigen
                              									Atomtheorie keinen stofflichen Aether, der nach Lorentz sozusagen das Rückgrat der
                              									Welt abgeben soll, vorstellen kann; aber das ändert doch nichts an der Tatsache, daß
                              									Einstein sehr wesentliche Gedanken von Lorentz beibehalten hat. Die grundlegenden
                              									Gleichungen der Relativitätstheorie führen auch heute noch den Namen von
                              									Lorentz.
                           Indessen ist die Schaffung der Grundlagen für die Relativitätstheorie keineswegs das
                              									einzige Verdienst von Lorentz. Er war es vor allem, der etwa um die Jahrhundertwende
                              									die Auffassung vom Wesen der Elektrizität als bestehend aus einzelnen Elektronen
                              									verfocht und schließlich mit ihr durchdrang. Wem diese heute so ungemein wichtige
                              									Lehre in erster Linie zu danken ist, das ist nicht ganz leicht festzustellen. Der
                              									Erste, der sie in einer allerdings bloß hingeworfenen Bemerkung aussprach, war kein
                              									Geringerer als Helmholtz. Es mußten erst zahlreiche Versuche wie z.B. die
                              									berühmten Kathodenstrahlenversuche Lenards dazukommen, ehe sie sich durchsetzen
                              									konnte. Lorentz war wohl der bedeutendste Vorkämpfer auf diesem Gebiet. Gerade im
                              									Lichte der „atomaren Auffassung“ gestalteten sich die Grundlagen der
                              									Elektrizitätslehre völlig um, durch sie wurden große, weite Forschungsgebiete, z.B.
                              									die Lehre von der Luftelektrizität, die ganze neue Atomtheorie usw. erst ermöglicht.
                              									Der Name „Elektron“ für die kleinste elektrisch negative Einheit ist durch
                              									Lorentz erst sozusagen volkstümlich geworden.
                           Die Frage, welches Volk am meisten zur Entwicklung der die Grenzen der Völker und
                              									Länder überspringenden Wissenschaft beigetragen hat, ist schwierig und zudem auch
                              									immer etwas peinlich. Aber es ist ganz unmöglich, den im Verhältnis zu ihrer
                              									Volkszahl geradezu gewaltigen Anteil zu übersehen, den gerade die Niederländer an
                              									der Entwicklung unserer Physik genommen haben. Zu ihren Gründern gehört neben
                              									Galilei und Newton vor allem Huygens; die neuere Zeit brachte die physikalischen
                              									Chemiker van der Waals und van't Hoff, von denen dieser lange Zeit an der Berliner
                              									Universität wirkte, ferner Zeemann, der sich um die Entwicklung der Lichttheorie
                              									große Verdienste erworben hat, den berühmten Kälteforscher Kammerlingh-Onnes und vor
                              									allem eben Lorentz. In dem der Physik heute ja verwandten Gebiet der Sternkunde
                              									zählt der Holländer Capteyn zu den am meisten bewunderten Größen. Auch in der
                              									Mathematik gehen von dem Holländer Brower geradezu umstürzende Gedanken aus.
                              									Röntgen, den wir Deutsche freilich mit Fug zu den unseren zählen dürfen, stammt aus
                              									holländischem Grenzgebiet, und als er einst an den nun dahingeschiedenen
                              									Fachgenossen Lorentz eine ehrende Ansprache zu richten hatte, tat er dies zu dessen
                              									freudiger Ueberraschung in tadellosem Holländisch.
                           Prof. Dr. Paul Kirchberger.