| Titel: | Wo liegt der Nordpol? | 
| Autor: | Kirchberger | 
| Fundstelle: | Band 343, Jahrgang 1928, S. 178 | 
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                        Wo liegt der Nordpol?
                        Nachdruck verboten.
                        KIRCHBERGER, Wo liegt der Nordpol?
                        
                     
                        
                           mfg. Wenn wir genau erfahren wollen, wie es am Nordpol aussieht, dann bleibt
                              									natürlich kein anderes Mittel, als hinzufahren und nachzusehen. Es scheint, daß in
                              									jüngster Zeit dieses Ziel trotz seiner großen Kälte immer heißer erstrebt wird. Wenn
                              									wir aber erfahren wollen, wo der Nordpol liegt, so gibt es allerdings auf der
                              									ganzen Erde, den Südpol ausgenommen, kaum einen Punkt, wo sich das so schlecht
                              									fesstellen ließe, wie eben am Nordpol selbst. Denn die Achse, um die sich die Mutter
                              									Erde dreht, oder sagen wir: ihr allein sichtbarer Endpunkt, sieht ja nicht anders
                              									aus als irgend ein 
                              									anderer Punkt der Erde auch, und die Eskimos, die ja bekanntlich nach Fritz
                              									Reuter die Erdachse schmieren, pflegen dies gutem Vernehmen nach, wie die
                              									Heinzelmännchen, heimlich zu tun, und es ebenso wie diese übel zu nehmen, wenn man
                              									sie aus unbefugter Neugier dabei beobachtet.
                           Man muß sich also schon nach anderen Mitteln umsehen, um die Lage des Pols
                              									festzulegen; d.h. festlegen kann man ihn eigentlich überhaupt nicht, denn er bleibt
                              									nicht an Ort und Stelle, sondern wandert, wovon man sich freilich keine übertriebene
                              									Vorstellung zu machen braucht, der im Verlauf dieser Wanderung umschriebene Raum ist
                              									nämlich nicht größer als ein größerer Saal. Seine jeweilige Lage läßt sich bis auf
                              									etwa ½ Meter genau festlegen. Aber die Beobachtungen, durch die dies geschieht,
                              									werden iri weit südlich gelegenen Orten gemacht, die ungefähr die geographische
                              									Breite von Neapel haben und in einem ost-westlich gerichteten Gürtel um die ganze
                              									Erde herumgehen.
                           Die Lage des Pols macht nämlich ihren Einfluß auf jeden Ort der Erde geltend, denn
                              									wenn der Pol auf uns zu wandert, so kommen wir ihm näher, unsere Lage wird
                              									nördlicher. Entfernt er sich von uns, so machen wir alle eine kleine Südreise, die
                              									freilich nicht einmal hundert Schritte groß ist. Wie kann man nun eine so kleine
                              									Aenderung der Nord-Süd-Lage feststellen? Nun, je nördlicher ein Ort liegt, desto
                              									höher erscheint bei ihm der Himmelspol, d.h. der Punkt, um den sich alle Sterne
                              									drehen. Am Nordpol der Erde selbst liegt er zu unseren Häupten; denn da der
                              									Himmelspol nichts anderes ist als die Verlängerung der Erdachse, und da am Nordpol
                              									die Richtung der Erdachse mit der Richtung unseres Körpers, also mit der
                              									Senkrechten, zusammenfällt, so sehen wir den Himmelspol über uns. Reisen wir nun zum
                              									Erdäquator, so hat sich zwar die Richtung zum Himmelspol nicht geändert, wohl aber
                              									die Richtung unseres eigenen Körpers, die ja immer zum Erdmittelpunkt zeigt, am
                              									Aequator also anders ist als am Nordpol. Infolgedessen sieht man am Aequator den
                              									Himmelspol nicht mehr oben, in der Verlängerung unserer nunmehr geänderten
                              									Körperrichtung, sondern unten am Horizont, und je weiter man von dort zum Nordpol
                              									wandert, um so höher steigt auch der Himmelspol wieder hinauf. Daher spricht man von
                              									der „Polhöhe“ und bestimmt nach ihr die geographische Breite eines Ortes. Für
                              									Berlin beträgt sie beispielsweise 52½ Grad, für München 48 Grad, für Hamburg 53½
                              									Grad. Aendert sich nun die Polhöhe eines Ortes, so ist das ein Beweis dafür, daß
                              									sich seine Entfernung vom Pol geändert hat; dies kann nicht etwa daher rühren, daß
                              									sich die Beobachtungsorte auf den Pol zu- oder von ihm wegbewegt haben; denn dann
                              									würde sich jeder Ort anders bewegen, während man tatsächlich ganz sicher
                              									festgestellt hat, daß, wenn sich der Pol auf einen Punkt zu bewegt, er sich von
                              									einem gegenüberliegenden entfernt.
                           Merkwürdig ist die Genauigkeit der Messung, mit der man dies feststellen kann. Die
                              									hierzu dienenden Beobachtungen werden nämlich nicht etwa mit Riesenfernrohren und
                              									auf eigentlichen Sternwarten gemacht, sondern mit allerdings sorgfältig
                              									aufgestellten und bedienten, aber doch nur mittelgroßen Fernrohren und auf kleinen,
                              									hierzu besonders errichteten Beobachtungsstellen. Unter diesen Umständen kann man
                              									Winkelgrößen nur mit einer Genauigkeit messen, die der Größe einer Sekunde
                              									entspricht. Dies ist freilich auch schon ein kleiner Winkel. Er ist etwa so groß,
                              									wie ein Millimeter in der Entfernung von 200 Meter erscheint. Aber wenn man den
                              									Himmelspol nicht genauer festlegen könnte, als bis auf diesen Winkel, so würde das
                              									für die Lage des Nordpols der Erde eine Unsicherheit von ungefähr 30 Meter bedeuten,
                              									d.h. von seiner ganzen Wanderung könnte man überhaupt nicht viel mit einiger
                              									Sicherheit feststellen. Aber nun werden die Beobachtungen in so großer Zahl gemacht,
                              									der Durchschnitt aus ihnen wird so genau berechnet, und vor allem die Beobachtungen
                              									an den verschiedenen Beobachtungspunkten werden so genau miteinander verglichen, daß
                              									man dadurch die Genauigkeit auf fast den hundertfachen Betrag der Einzelbeobachtung
                              									steigern kann, so daß sich tatsächlich die Lage des Nordpols auf etwa 30 bis 50
                              									Zentimeter genau angeben läßt. So konnte man denn verfolgen, daß er etwa im Verlauf
                              									von 14 Monaten einen Kreis beschreibt, freilich keinen ganz regelmäßigen, denn er
                              									kehrt nicht etwa in die Anfangslage zurück, sondern nur in ihre Nähe. Auch sonst
                              									weist die Bewegung mancherlei Unregelmäßigkeiten auf.
                           Auch die Gründe, woher die ganze sonderbare Bewegung kommt, können wir angeben. Die
                              									Erdachse könnte nur dann ihre Lage dauernd beibehalten, wenn sich die schweren
                              									Massen der Erde ganz regelmäßig um sie herumlagerten. Aber dies ist nun einmal nicht
                              									der Fall. Die Verteilung der schweren Massen im Erdkörper weist Unregelmäßigkeiten
                              									auf, und deshalb muß die Erdachse wandern. Bemerkenswert ist, daß schon der große
                              									Mathematiker Euler vor etwa 1½ Jahrhunderten diese ganze Bewegung vorausgesagt hat.
                              									Allerdings gab er die Dauer der Kreisbewegung etwas zur kurz an, weil er die Erde
                              									als einen vollkommen starren, unnachgiebigen Körper behandelte. Tatsächlich aber ist
                              									sie nachgiebig, und dies hat die Verlängerung der Bewegung zur Folge.
                           Für eine Wanderung des Pols in größerem Maßstabe spricht nichts. Und wenn wir uns im
                              									Beginn dieses Sommers mitunter in die Nähe des Nordpols versetzt glauben, so ist die
                              									Wanderung des Pols daran jedenfalls unschuldig.
                           Prof. Dr. Kirchberger.